Kindesschutz in der Ganztagsschule
Art. 6 Abs.2 S.1 GG
„(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
Art.6 Abs.2 S.1 GG sieht eine Koppelung von Elternrecht und Elternpflicht vor, die es so in keinem anderen Grundrecht gibt. Eltern sind danach zur Pflege und Erziehung ihres Kindes berechtigt, gleichzeitig aber auch verpflichtet. Das verfassungsrechtlich verankerte Elternrecht beinhaltet auch ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat. Hierdurch wird das sogenannte Elternprimat festgelegt, wonach Eltern primär für die Erziehung ihres Kindes verantwortlich sind und der Staat nicht als gleichgeordneter Erzieher auftritt. Das Elternrecht bietet somit einen „Freiraum der elterlichen Betätigung“ (BVerfGE 24,119,138), ohne dass ein staatlicher Eingriff zulässig wäre. Ziel der Erziehung soll das Wohl des Kindes und die Ermöglichung der Persönlichkeitsentfaltung sein. Das Kindeswohl ist dabei Ausprägung der in Art.1 S.1 GG verankerten Menschenwürde. Das Kind ist deshalb „nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten“(BVerfGE 121, 69, 93). Das Elternrecht ist damit ein dienendes Grundrecht und eine treuhänderisch anvertraute Freiheit (BVerfGE 59, 360, 376). Besser und passender ist es somit von Elternverantwortung zu sprechen.
Art.6 Abs.2 S.2 GG normiert das sogenannte „Staatliche Wächteramt“:
Danach hat die staatliche Gemeinschaft die Pflicht, darüber zu wachen, dass die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung gerecht werden. Entziehen sich Eltern ihrer Verantwortung und ist das Wohl des Kindes gefährdet, muss der Staat durch seine handelnden Institutionen eingreifen. Zur staatlichen Gemeinschaft gehören neben Jugendamt und Familiengericht auch alle weiteren Organe staatlicher Gewalt und folglich auch Schule, Polizei, Sozialleistungsbehörden. Die staatliche Schutzpflicht aus Art.6 Abs.2 S.2 GG wird durch Gesetze konkretisiert und erlaubt somit konkrete Aufgaben und Handlungsbefugnisse.
Der Maßnahmenkatalog des § 1666 BGB sieht dabei zweierlei grundsätzliche Reaktionsmöglichkeiten der staatlichen Gemeinschaft vor bei einer Gefährdungslage:
1. Hilfe- und Unterstützungsleistungen
2. hoheitlicher Eingriff in das elterliche Sorgerecht
Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen sind dabei grundsätzlich vorrangig. Erst wenn durch sie nicht möglich ist, eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden, kommt ein staatlicher Eingriff zulässigerweise in Betracht. Zu den möglichen Hilfeleistungen zählen unter anderem die Unterstützung durch das Familiengericht, Beistandschaft des Jugendamtes, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Erst wenn diese Maßnahmen alle nicht mehr greifen, kommt ein Entzug des Sorgerechts in Betracht.
Dabei ist die Zuständigkeit grundsätzlich wie folgt geregelt:
1. Jugendhilfe: Einschätzung Gefährdung, Hilfegewährung
2. Familiengericht: Entscheidungen hinsichtlich elterlicher Sorge
Bevor staatliche Hilfe-, Unterstützungs- oder Eingriffsmaßnahmen in das elterliche Erziehungsrecht auf Grund einer Kindeswohlgefährdung in Betracht kommen, muss eine solche Gefährdungslage zunächst vorliegen. Eine eindeutige rechtliche Definition des Begriffs der Kindeswohlgefährdung gibt es jedoch nicht. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat folgende ausfüllungsbedürftige und im Einzelfall zu prüfende Definitionserklärung im Rahmen einer Entscheidung zum Ausdruck gebracht:
Eine Gefährdung des Kindeswohls ist gegeben, wenn eine gegenwärtige, in einem solchem Maße vorhandene Gefahr vorliegt, dass sich bei weiterer Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. (BGH Beschluss vom 14.07.1956 AZ: IVZB 32/56, FamRZ 1956, 350)
In Praxis und Literatur haben sich vier Kategorien der Formen von Kindeswohlgefährdungen herausgebildet, die nicht einzeln auftreten müssen, sondern bei denen es auch Überschneidungen geben kann:
• Kindesvernachlässigung: chronischer Zustand der Mangelversorgung des Kindes (Erziehungsberechtigte als Vernachlässigende)
• Körperliche Misshandlung
• Seelische Misshandlung
• Sexueller Missbrauch
Um einen verstärkten Schutz von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten trat 2012 das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft. Dieses fußt auf den beiden tragenden Säulen der Prävention (Vorbeugung) und Intervention (Eingriff). Die wichtigsten Neuerungen werden im Folgenden exemplarisch aufgelistet und den beiden Säulen zugeordnet:
1. Säule: Prävention
• Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung nach § 1 KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz)
• Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz nach § 3 KKG • Erweitertes polizeiliches Führungszeugnis (auch für ehrenamtliche und nebenberuflich tätige Personen) nach § 72 a SGB VIII
• Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen nach § 72 a SGB VIII
2. Säule: Intervention
• Erörterungspflicht für Lehrkräfte mit Kindern und Jugendlichen und ggfs. den Personenberechtigten bei gewichtigen Anhaltspunkten/ Hinwirkungsgebot auf die Inanspruchnahme von Hilfen durch Lehrkräfte § 4 Abs.1 KKG
• Fachberatung für Geheimnisträger bei vermuteter Kindeswohlgefährdung § 4 Abs.2 KKG
• Informationsweitergabe u.U. ohne Einverständnis der Personensorgeberechtigten sowie dem damit verbundenen Datenschutz § 4 Abs. 3 KKG
Im Bereich sexualisierte Gewalt sind besonders die Regelungen zum erweiterten polizeilichen Führungszeugnis sowie zum Tätigkeitsausschluss für Ganztagsschulen von Bedeutung.
BASS 12-63 Nr.2 7.7 Das Personal legt vor Aufnahme seiner Tätigkeit ein erweitertes Führungszeugnis vor (§ 30a Absatz 1 Bundeszentralregistergesetz). Bei Personen, die in Begleitung mitwirken und bei Schülerinnen und Schülern kann auf ein erweitertes Führungszeugnis verzichtet werden. Im Übrigen gilt § 72 a SGB VIII.
Hiernach müssen auch für die außerunterrichtlichen Angebote an einer Schule entsprechende Führungszeugnisse vorgelegt werden. In der Praxis gelingt dies zum einen durch die Kooperationsvereinbarungen der OGS-Träger mit dem Schulträger und der jeweiligen Schule, in denen der der OGS-Träger zusichert, vor der ersten Arbeitsaufnahme sowie danach in regelmäßigen Abständen sich von seinem Personal ein solches erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen zu lassen. Des Weiteren werden vielfach Vereinbarungen zwischen dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe und dem OGS-Träger (idR staatlich anerkannter Träger der freien Jugendhilfe) gemäß § 72 a Abs.2 SGB VIII geschlossen, die sicherstellen, dass im Offenen Ganztag keine Personen beschäftigt werden, die wegen einer in § 72 a Abs.1 SGB VIII aufgeführten Straftat rechtskräftig verurteilt worden sind. Darüber hinaus sichert der OGS-Träger regelmäßig zu, in seinen Verträgen mit anderen außerschulischen Partnern wie z.B. Sportvereinen oder Musikschulen, die AG-Angebote vorhalten oder Projekte durchführen, ebenfalls eine Zusicherungsklausel für die dort tätigen Personen aufzunehmen. Werden ehrenamtlich tätige Personen in den Offenen Ganztag eingebunden, so können diese eine Kostenbefreiung hinsichtlich des Antrags auf Ausstellung eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses beantragen. Ansonsten fällt für die Ausstellung eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses eine Gebühr von z.Zt. 13 € an.
Weitere Infos sowie den Online-Antrag für das Führungszeugnis finden Sie unter:
https://www.fuehrungszeugnis.bund.de/
Für den Umgang mit dem Thema „Kindesschutz“ ist es unerlässlich, verlässliche und handlungssichere Warn-, Dokumentations- und Vorgehenssysteme in der Offenen Ganztagsschule unter Einhaltung der geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu vereinbaren unter Einbindung aller in der Schule tätigen Personen.
Es gilt die Regelung des § 42 Abs.6 SchulG NRW umfassend zu beachten:
(6) Die Sorge für das Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert es, jedem Anschein von Vernachlässigung oder Misshandlung nachzugehen. Die Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung des Jugendamtes oder anderer Stellen.
Sollte ein Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung bestehen, entscheidet die Schule, repräsentiert durch die Schulleitung gemäß § 59 Abs.2 S.1 SchulG NRW, welche Stellen sie informiert und einbezieht.
Dabei gilt:
BASS 18-02 Nr.1 3.2.6
Gefährdung des Kindeswohls (…) Lehrkräfte, die einen derartigen Verdacht haben, informieren die Schulleitung unverzüglich. Sofern ein Gespräch mit der Schülerin oder dem Schüler und den Personensorgeberechtigten keinen Erfolg verspricht – u.a. soll hierbei auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden – und eine Gefährdung auf andere Weise nicht abzuwenden ist und somit ein Tätigwerden des Jugendamtes als erforderlich erachtet wird, ist die Lehrkraft beziehungsweise die Schulleitung befugt, das Jugendamt zu informieren und die erforderlichen Daten mitzuteilen. Vorab sind die Betroffenen hierüber in Kenntnis zu setzen, sofern damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sowie staatliche anerkannte Schulsozialarbeiterinnen und –arbeiter beziehungsweise staatlich anerkannte Sozialpädagoginnen und –pädagogen, die in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit ebenfalls gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung feststellen, gilt dies entsprechend.
Auszug aus Heft 29 „Kinderschutz heißt auch Jugendliche schützen“ (Bücken / Fiegenbaum 2015. S.102-107)
Gefährdungslagen lassen sich in Anlehnung an Kindler und Lillig (2010) grob in zwei Kategorien einteilen:
Klassische Gefährdungslagen und speziell in Bezug auf Jugendliche Gefährdung durch Transaktion. Klassische Gefährdungslagen sind Gefährdungen, die durch das direkte Tun oder Unterlassen der Eltern entstehen, also wenn Eltern die Rechte der Minderjährigen massiv missachten. Hierzu zählen Misshandlung, Vernachlässigung oder (sexualisierte) Gewalt, die Kinder und Jugendliche im familiären Kontext erleben, aber auch das Miterleben häuslicher Gewalt zwischen Erwachsenen oder von massiven Erwachsenenkonflikten um ihre Person. Für das Jugendalter stellen darüber hinaus „Autonomiekonflikte“ eine für spezifische Form klassischer Gefährdungen dar. Damit sind nicht die für die Pubertät typischen Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen gemeint, die auch in der Schule wahrnehmbar sind und ggf. erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten dort haben können. Es geht vielmehr um die die fortdauernde Missachtung der zunehmenden Rechte und Bedürfnisse eines/einer Jugendlichen, die Wahl von Partnerinnen oder Partnern, Freundinnen und Freunden, Freizeitinteressen, von Ausbildung, Beruf und Lebensstil nach den eigenen Vorstellungen zu treffen. Von Autonomiekonflikten im Sinne einer Gefährdung kann demnach gesprochen werden, wenn das Auseinanderklaffen der Lebenslaufvorstellungen von Eltern und ihrem Kind (‚Jugendlichen‘) gewaltförmig ausgetragen wird oder von den Erziehungsberechtigten dabei ein hohes Maß an psychischem Zwang eingesetzt wird (vgl. Münder et al. 2000: 61). Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Jugendlichen aufgrund der Verletzung familiärer Ehrvorstellungen Gewalt angedroht wird oder bei (drohender) Zwangsverheiratung. Ein Autonomiekonflikt liegt aber auch vor, wenn die Ablösung einer/eines Jugendlichen dadurch verhindert wird, dass er oder sie dazu gezwungen wird, Verantwortung und Pflichten im elterlichen Haushalt oder die Versorgung der Eltern oder jüngerer Geschwister zu übernehmen, also unfreiwillig in eine altersuntypische Versorgungs- und Erwachsenenrolle gedrängt wird, die häufig überfordert. Gefährdungen durch Transaktion entstehen durch das Handeln oder Unterlassen der Jugendlichen selbst. Sie treten ein, wenn der oder die betroffene Jugendliche ein problematisches oder riskantes Verhalten zeigt und Eltern darauf unzureichend, unangemessen oder gar nicht reagieren. In Anlehnung an Lillig (2014: 35 ff.) lässt sich das an einigen Beispielen verdeutlichen: Eine im Jugendalter ausgebildete Sucht führt beispielsweise bei 50 % der Betroffenen zu erheblichen Schwierigkeiten im jungen Erwachsenenalter – und zwar auch, wenn Therapieversuche unternommen wurden. Der Verlauf ohne Therapieversuche dürfte entsprechend noch ungünstiger sein. Eine beginnende Sucht kann also als Problemverhalten bezeichnet werden, das erstens mit ziemlicher Sicherheit eine Schädigung der weiteren Entwicklung nach sich zieht und das zweitens ein Eingreifen der Sorgeverantwortlichen dringend erfordert. Für einen experimentierenden Gebrauch von Suchtmitteln, insbesondere Alkohol, gilt dies jedoch nicht (vgl. ebd.). Delinquentes Verhalten – einschließlich einzelner Körperverletzungsdelikte – zählt ebenfalls nicht per se zu den Problemverhaltensweisen, die mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Beeinträchtigung auf dem weiteren Lebensweg erwarten lassen. Dennoch verlangen derartige Regelübertretungen nach Reaktionen bzw. Sanktionen (vgl. ebd.). Anders ist es jedoch, wenn ein Jugendlicher. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um ein tief eingeübtes aggressives Verhaltensmuster handelt, das eine erhebliche Entwicklungsbeeinträchtigung sehr wohl erwarten lässt. Erfolgt hier keine oder nur eine unzureichende oder grob unangemessene elterliche Reaktion (z. B. durch Schläge), rechtfertigt das die Aktivierung des Schutzauftrags und ggf. familiengerichtliche Eingriffe. Ein für Lehr- und Fachkräfte im Alltag sehr präsentes Thema und häufiges Problemverhalten Jugendlicher ist Schulabsentismus. Dass Jugendliche mitunter ihre Lebenschancen einschränken, wenn sie ihrer Schulpflicht nicht nachkommen, steht außer Frage. Tritt Schulabsentismus aber als isoliertes Problem auf, ist jedoch nicht von einer Gefährdung auszugehen, denn Längsschnittstudien (vgl. Gaupp/Braun 2006) zeigen eine erhebliche Schädigung ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung in der Mehrheit der Fälle nicht zu erwarten ist (vgl. Gaupp/Braun 2006). Anders verhält es sich, wenn der Schulabsentismus nur ein kleiner Teil aus einem Gesamtkomplex problematischer Verhaltensweisen oder Ausdruck einer generellen elterlichen Ablehnung der Schule ist. Dann bedarf es also des Blicks auf den Einzelfall und die Lebenssituation des/der betroffenen Jugendlichen.
Weitere Materialien finden Sie unter:
http://www.ganztag-nrw.de/information/themenschwerpunkte/kinderschutz/